Es klingt zynisch, aber man muss sagen: Etwas Besseres als die Coronapandemie hätte den Grammys nicht passieren können. Die US-amerikanische Recording Academy, die den wichtigsten Musikpreis der Nation seit 1959 verleiht, musste wegen des Virus ihre ausgetretenen Pfade verlassen, zumindest was die Gestaltung der alljährlichen Liveshow betrifft. Statt wie üblich Ende Januar fand das rund dreieinhalbstündige Event erst jetzt statt. Vor dem Staples-Center in der Innenstadt von Los Angeles hatten die Showproduzenten ein luftiges Außenzelt platziert, in dem statt Publikum lediglich die vorher getesteten Nominierten mit ihren Begleitpersonen an Tischen saßen, Corona-Abstand inklusive.
Für die 22 Musikdarbietungen hatte man im Inneren des benachbarten, riesigen Los Angeles Convention Center fünf voneinander getrennte Bühnen im Kreis arrangiert errichtet, in deren Mitte Showmoderator Trevor Noah, Kameracrews und Promi-Präsentatoren agieren konnten. Vor den Bühnen tanzten wiederum nur wenige Menschen, darunter die geladenen Stargäste. Das sorgte gleich beim ersten Auftritt, Harry Styles mit seinem Hit »Watermelon Sugar«, zu selten intimen Momenten, als Billie Eilish und das Schwesterntrio Haim, die nach Styles auftreten sollten, lässig und entspannt zur Musik ihres Kollegen groovten.
Die 63. Grammy Awards gerieten also – notgedrungen – zu einer überraschend besinnlichen Familienfeier, die, zumindest als das Tageslicht noch da war, ein bisschen an den ZDF-»Fernsehgarten« erinnerte. Die Sorge über das Virus und seine globalen Auswirkungen ließ viele Konflikte, die den Musikpreis mit seinen verkrusteten Strukturen und unübersichtlichen Genre-Kategorisierungen seit Jahren begleiten, in den Hintergrund treten. Als Preis-Präsentatoren traten, sehr rührend, einige Betreiber von pandemiebedingt geschlossenen Konzertklubs aus L.A. und New York auf.
Showhost Noah konnte sich trotzdem nicht verkneifen, auf gewisse Verwerfungen hinter den Kulissen hinzuweisen: »Momentan liegt hier im Zelt mehr Spannung in der Luft als bei einer Familienzusammenführung im Buckingham Palace«, sagte er mit einem Seitenhieb auf den Zwist zwischen Meghan, Harry und den Royals.
Streitpotenzial gab es genug: Der afrokanadische Popstar The Weeknd (»Blinding Lights«) hatte sich bitter darüber beklagt, dass er zwar eines der definierenden und erfolgreichsten Alben des vergangenen Jahres veröffentlicht, aber keine einzige Grammy-Nominierung bekommen hatte. Vor der Verleihung kündigte er an, die Grammys zu boykottieren, bis das Gemauschel der geheimen Preisjurys in der Academy beseitigt sei. Von Rassismus sprach er nicht direkt, aber schwarze Künstler beklagen sich seit langer Zeit, dass sie zwar vielfach in obskuren »Urban«-, R&B- oder Rap-Kategorien nominiert würden, jedoch nur äußerst selten den prestigeträchtigen Hauptpreis »Album des Jahres« bekämen.
Wie absurd und vom Zeitgeist überholt, wenn nicht rundheraus rassistisch grundiert die Stileinordnungen der Grammys sind, darauf hatte der weiße Sänger Justin Bieber ein Schlaglicht geworfen, als er sich nach den Nominierungen darüber beschwerte, dass sein jüngstes Album in der Popkategorie einsortiert worden war, obwohl es ein lupenreines R&B-Album sei.
Und dann ist da die spätestens seit dem unglücklichen »Women need to step up«-Statement des früheren Grammy-Chefs Neil Portnow nicht mehr nur schwelende, sondern brodelnde Diskussion über den geringen Frauenanteil unter der Nominierten und Preisträgern. Repräsentanz von Minderheiten, Gender-Gerechtigkeit, kritischer Umgang mit weißen Privilegien – die Grammys sind längst ein Spiegel der gesellschaftlichen Konflikte um Identitätsfragen und Machtverhältnisse geworden.
Über die Genre-Gettos der Grammys wird noch zu reden sein
Umso beeindruckender, wie harmonisch und friedlich die Atmosphäre am Sonntagnachmittag (Ortszeit) im Zelt vor dem Staples Center war. Niemand schien The Weeknd zu vermissen, der, das muss man sagen, in den vergangenen Jahren mehrfach nominiert worden war und auch Grammys gewonnen hatte. Das lag sicher auch daran, dass die Frauen die Preise unter sich ausmachten: R&B-Queen Beyoncé, Rap-Newcomerin Megan Thee Stallion, Pop-Wunderkind Billie Eilish (die ihren Preis für die Aufnahme des Jahres wiederum der Afroamerikanerin Megan Thee Stallion widmete), Mainstream-Muse Taylor Swift und die britische Dancepop-Sängerin Dua Lipa triumphierten in einer überraschend paritätischen Preisvergabe, männliche Stars spielten in diesem Jahrgang kaum eine Rolle.
Das kann man Tokenism nennen, also Alibi-Programmierung, um die Missstände hinter den Kulissen zu übertünchen. Das hatte US-Sängerin Fiona Apple gemutmaßt, als sie erfuhr, dass in der Sparte »Beste Rock Performance« erstmals ausschließlich Acts mit weiblicher Beteiligung nominiert waren. Sie gewann dann den Preis für ihren Song »Shameika« und einen weiteren Grammy für das beste Alternative-Album. Warum sie mit ihrem fulminanten Comeback nicht in der generellen Kategorie »Album des Jahres« nominiert war? Wissen nur die Bürokraten der Recording Academy.
Über Genres und Kategorisierungs-Gettos und ihren Wert in einer Popwelt, die immer diverser und stilistisch idiosynkratischer wird, muss man also künftig noch reden. »Gerecht« nach Proporz und Quotenmaß kann ein Preis, der von wie auch immer gestalteten und besetzten Jurys vergeben wird, allerdings nie sein; Verlierer, die sich ungerecht behandelt oder übergangen fühlen, wird es immer geben, egal welcher Hautfarbe, Herkunft oder musikalischer Ausrichtung. Die Alternative wäre, die Grammys nach kommerziellen Gesichtspunkten zu verleihen, also die Verkaufszahlen, Streamingpower oder sonstige Quantifizierungen als Maßgabe für Zeitgeist- und Massenrelevanz heranzuziehen. Wie öde das dann wird, hat man beim inzwischen abgeschafften deutschen Echo-Preis gesehen.
Zumal die Grammys erneut auch politisches Realitäts-Bewusstsein zeigten, in einer radikalen Form, die in deutschen Shows gleicher Machart wohl undenkbar wären. Denn die Straße war in diesem Outdoor-Setting der Grammys nie weit entfernt, wie »Best New Artist«-Preisträgerin Megan Thee Stallion in ihrer Dankesrede bemerkte: »Huch, ein Auto!«, entfuhr es ihr erschrocken, als im Hintergrund plötzlich der Alltagslärm von Downtown L.A. in den Fernsehgarten einsickerte.
Vollends manifest machte diese ungewohnte Street Credibility dann Rapper Lil Baby, der in einer Seitenstraße die oft brutale Gewalt weißer Polizisten gegen Schwarze inszenierte wie einen düsteren Thriller, der zu seinem Black-Lives-Matter-Track »The Bigger Picture« ablief. Die schwarze Aktivistin Tamika Mallory richtete darin ein wütendes Plädoyer für Freiheit und Gerechtigkeit an den US-Präsidenten Joe Biden: »We demand justice, equity, policy and everything else that freedom encompasses.« Die Wucht dieses Auftritts erinnerte an Kendrick Lamars damals kontrovers diskutierte Grammy-Performance von 2016.
Auch drinnen auf der Showbühne wurde der institutionelle Rassismus thematisiert, als Rapper Da Baby seinen Song »Rockstar« performte. Keiner der beiden populären Hip-Hop-Stars gewann an diesem Abend einen Preis, dafür aber die schwarze Sängerin H.E.R., deren Song »I Can't Breathe« nach dem gewaltsamen Tod George Floyds entstand und nun zum »Song des Jahres« gekürt wurde. Vielleicht brachte sie diese von zahlreichen Umbrüchen gekennzeichnete Show, ihre zur Schau gestellte Weiblichkeit und ihre politische Dringlichkeit, am besten auf den Punkt, als sie in ihrer Dankesrede an ihre ausgezeichneten Kolleginnen gerichtet sagte: »We are the change that we wish to see« – Wir repräsentieren den Wandel, den wir sehen wollten. So weit, so gelungen.
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